Marg Moll

Marg Moll, deutsche Maler- und Bildhauerin (1884-1977)

Berliner Jahre

Im Sommer kehrte das Ehepaar Moll über Wiesbaden nach Berlin zurück. Margarete besuchte mit Oskar ihre Eltern. In Heidelberg hatten sie – wie erwähnt - Henri Matisse und Hans Purrmann getroffen.

Am 14. November 1908 wurde Tochter Melita geboren. Die Familie Moll wohnte in Berlin-Charlottenburg, Gervinus Straße 2.

Das Weihnachtsfest erlebten die Molls gemeinsam mit Henri Matisse und einigen ihrer Freunde in Berlin. Dazu gehörten das englische Ehepaar Williams und der deutsche Dramatiker und Satiriker Heinrich Ilgenstein, der als erklärter Kriegsgegner die kaiserliche Marine aufs Korn genommen hatte. Ihn erwartete nach Weihnachten ein Prozess wegen "Majestätsbeleidigung". Die großmannsüchtige Politik des deutschen Kaisers Wilhelm II. und seine verhängnisvollen Fehler gegenüber den europäischen Nachbarn standen im Mittelpunkt dieses Abends. Es sei ein recht amüsantes Fest gewesen, gestand Margarete hintersinnig. Später wurde Ilgenstein zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs besuchten beide Molls jedes Jahr Matisse und seine Familie in Paris. Sie blieben meistens zwei Monate in der französischen Hauptstadt. Manchmal auch länger.

"Nach 1918 sahen wir ihn nicht wieder", schrieb Grete Moll später: "Ich erinnere mich an ein Geburtstagstelegramm, was wir ihm gesandt hatten. Es hat ihn aber wohl nicht erreicht. Seine Tochter Marguerite trafen wir später einmal. Sie war mit dem Schriftsteller und Kritiker Duthuit verheiratet. Der Sohn wurde Kunsthändler in New York."

Ab Januar 1909 besuchte Margarete die Kunstschule Lewin-Funcke in Berlin, um ihre Fertigkeiten zu vertiefen. Oskar Moll erkrankte. Die verbliebene, nicht gut funktionierende Niere zwang ihn, kürzer zu treten. Eine angespannte Zeit erzwungener Ruhe und Besinnung folgte. Der Arzt hatte dringend geraten, "den Winter durch einen Aufenthalt im Süden abzukürzen". Margarete Moll notierte für den Herbst: "Corinth besucht uns jede Woche an einem Abend mehrere Jahre lang."

Sie diskutierten mit ihm etliche Male über den Spanier Pablo Picasso, den Corinth als völlig indiskutabel betrachtete, der aber von Molls geschätzt wurde. Von ihm besaßen sie bereits zwei Bilder. Ihre Gespräche kreisten um familiäre Probleme, um Erneuerung und Bewahrung. Immer wieder standen auch des Meisters Artikel, die er für Zeitungen und Zeitschriften verfasste, im Mittelpunkt ihrer Gespräche. Auch Fragen, die er in seinem 1908 veröffentlichten Buch "Das Erlernen der Malerei" aufgeworfen hatte, wurden – manchmal recht hitzig - mit dem streitbaren, recht trinkfesten Meister erörtert, der im gleichen Jahr sein neues Buch "Legenden aus dem Künstlerleben" ( 1909) vorstellte.

Corinth hatte mit seinen Memoiren begonnen. Anfangs seiner Berliner Zeit verdiente er recht wenig. Er lebte von gelegentlichen Aufträgen, von seiner "Malschule für Weiber" und von den "Mietzinsen seiner geerbten Königsberger Immobilien".

Inzwischen ging es ihm und seiner Familie wesentlich besser. Die Begegnung mit der 20 Jahre jüngeren Malerin Charlotte Berend hatte das Leben des raubeinigen Junggesellen verändert. Sie war eine eigenwillige, dynamische Frau, die aus einem liberalen jüdischen Elternhaus stammte, und – wie Margarete Moll – Freiräume beanspruchte. Sie wusste den "Draufgänger" Corinth zu nehmen, wie Peter Kropmanns schreibt, der in seinem Buch über Lovis Corinth dessen Frau zitiert. Im Januar 1906 hatte sie in ein Tagebuch geschrieben, das für Sohn Thomas angelegt wurde: "Wir sind jetzt enorm viel eingeladen, zu sehr eleganten Festlichkeiten, bei den größten Finanzleuten von Berlin – ein jeder spricht bewundernd von Deinem Papa, meinem geliebten Luke."

Noch war die Beziehung zwischen den Familien Moll und Corinth unbelastet. Sie bewunderten ihren "Meister", auch wenn nicht alle Meinungen des Lehrers ihren ungeteilten Beifall fanden, nicht alle seine Urteile über zeitgenössische Kunst hingenommen wurden. Sie schätzten sein Werk, bewunderten aufrichtig die inspirierende Genialität eines Malers, der wie Moll einer alten Gerberfamilie entstammte. Jovial wies Corinth gelegentlich auf diesen Zusammenhang hin. Doch seine zunehmend aggressiven Ansichten zur französischen Moderne missfielen den Molls. Immer häufiger kam es zu Verstimmungen.

Im Frühjahr 1909 reiste der gesundheitlich angeschlagene Oskar Moll für einige Wochen zu einem Kuraufenthalt nach Meran. Die Familie begleitete ihn. Margarete zeichnete und "angelte Forellen". Die kleine Lita wurde von einem Kindermädchen betreut. Den Sommer verbrachten sie mit ihren englischen Freunden Williams am Stechlin-See, wo sie arbeiteten.

Jahre später, als Hans Purrmann heiratete, fuhren sie mit ihm und seiner Frau Mathilde "zusammen nach Korsika", um in Ajaccio zu malen, zu arbeiten. Mathilde Vollmoeller war auch eine Schülerin von Matisse gewesen. Grete Moll korrespondierte jahrelang sehr freundschaftlich mit ihr. 1912 schrieb sie aus Berlin an beide Purrmanns in Paris: "Das Schlimme ist, es fehlen einem gleich zwei Freunde, da man sie beide nur ein paar Häuser weiter wohnen haben möchte."

Im korsischen Ajaccio war auch Matisse zum ersten Mal dem "Wunder des Südens" begegnet, wie Hilary Spurling beschreibt. 1898 erlebte er hier die "klare Helligkeit des südlichen Lichts, die sich nachhaltig auf ihn auswirkte". Auch das Ehepaar Moll, das seit einiger Zeit wieder in der bedeckten, oft dunstigen Atmosphäre Berlins arbeitete und lebte, war von der "ganz neuen Welt" überrascht und fasziniert, die sich auf Empfinden und Denken auswirkte.

Der Schriftsteller Guy de Maupassant hatte in seinem ersten Roman (1883) Ort und Landschaft ein sinnliches Denkmal gesetzt, in dem er ein junges Liebespaar beschrieb, das nach einer langen Bahnfahrt aus dem Norden sein Eheleben am Golf von Ajaccio beginnen wollte: "Das unbewegliche Meer von starkem Azur breitete sich wie geronnen, wie unter der Lichtglut, die von der Sonne niederströmte, gehärtet, unter dem unermesslichen Himmel aus, der von fast übertriebener Bläue war." Hier war Napoleon geboren worden. Hier fanden Besucher eine noch rustikale Hirtenkultur. Tourismus gab es so gut wie nicht.

Mehrere Male arbeiteten Molls und Purrmanns an jenem Ort, den ihr Lehrer oft lebendig geschildert hatte, um festgefahrene Sehweisen aufzubrechen und eine neue ästhetische Qualität unter dem Licht des Südens zu erreichen. Hier konnten sie in großer Abgeschiedenheit experimentieren und zu sich finden. Wie Henri Matisse es getan hatte.

"Wenn er davon sprach, leuchteten seine Augen", berichtete die aus Ajaccio stammende Marie-Dominique Roche, der Matisse in Nizza, wo sie Museumsdirektorin war, von seinen Erinnerungen an die Insel erzählte. "Er war wirklich bewegt", denn er fand etwas, das sein Werk und sein Leben verwandelte. An diesem mediterranen Ort veränderten sich auch die Empfindungen der Molls. Ein bereicherndes Gefühl der Energie und Helligkeit grundierte ihre Arbeit.

1911 war das Ehepaar in den Berliner Grunewald gezogen. Sie mieteten in der Trabener Straße 25 eine geräumige Wohnung, konnten dort grössere Ateliers einrichten. Neue Bilder, neue Skulpturen entstanden. Auch neue Freundschaften. Und immer wieder Atelierbesuche bei anderen Künstlern und Studienreisen ins Ausland, um die "Frische des Blicks" in freier Natur zu suchen. Dazwischen längere Erholungsaufenthalte für den Lebensgefährten.

"Sie blieben alle im Bannkreis ihres frühen Erlebnis", schrieb der Kunsthistoriker Werner Haftmann über die deutschen Matisse-Schüler. Immer wieder zog es sie nach Paris, in den Süden. Zwischen 1910 und 1914 hielten sich beide Molls im Winter in Korsika (Ajaccio), an der Riviera und in Italien auf, um dort zu arbeiten. Oskar Moll malte, Margarete zeichnete und modellierte. Sie festigten Anregungen und Hinweise, die ihnen Matisse und andere vermittelt hatten, verfeinerten sie, suchten das Licht, bemühten sich um "sensibilité".

1912 waren beide wieder mit Hans Purrmann und dessen Frau auf Korsika. In einer Selbstbiografie schreibt Oskar Moll: "Um meine Probleme weiter zu fördern, war mir der üppige Süden sehr willkommen. Die Farben und Formen sind dort klarer und eindrucksvoller als bei uns im Norden."

Margarete hatte 1911 in Paris ihre spätere Freundin Anna Endell kennen gelernt, die den Architekten August Endell heiratete. Der renommierte "Baumeister" Hans Scharoun, den die Molls einige Jahre später trafen und bis ans Lebensende mit ihm befreundet blieben, bezeichnete Endell als "einen der wenigen schöpferischen Verfechter des Jugendstils", der "die geistige Mutation der Jahrhundertwende auf künstlerischem Gebiet" vollzog.

1904 hatte Endell in Berlin eine "Formschule" eröffnet, in der er eine künstlerisch-handwerkliche Ausbildung anbot. Dabei definierte er als Ziel aller Künste die "Schönheit", die nichts anderes sei, "als die starke berauschende Freude, die Töne, Worte, Formen und Farben in uns unmittelbar erregen". Mit Hilfe der Natur sollten Schüler lernen, dass schon "die Form allein etwas Wunderbares" sei.

Als Architekt kämpfte Endell auch publizistisch für seine revolutionären Ansichten, stritt vehement über "Möglichkeit und Ziele einer neuen Architektur". Zwischen den Familien Endell und Moll entstand eine wirklich belastbare, langjährige Freundschaft, die bis zum Tode anhielt.

Ihre Fähigkeit, Menschen anzusprechen und sie durch Herzlichkeit, Großzügigkeit und Offenheit einzubeziehen, gehörten sowohl bei Margarete als auch bei Oskar Moll zu den tragfähigen Lebenssäulen. Der Reformer August Endell entwarf für das Ehepaar Moll kunstvolle Jugendstilmöbel, die von beiden in ihrer strengen Tektonik und ihrem schwingenden organischen Liniengefüge auch als Gegenentwürfe zum üblichen feudal-bürgerlichen Ambiente geschätzt wurden.

Endell gestaltete das Mobiliar für Wohnzimmer, Diele, Musik- und Ankleidezimmer mit dekorativen Intarsienarbeiten. In Erinnerungen an ihn schrieb Margarete: "Wie entzückend phantasievoll und sorgfältig gezeichnet sie waren. Als Grundform für diese zarten und doch so schmückenden Intarsien, die er anbrachte, entwickelte Endell fast alles aus dem Blatt, dem er die vielfältigsten, seltsamsten Formen geben konnte; es war für ihn eine der Urformen der Schöpfung. Auch unseren Beleuchtungskörper, der versilbert in zehnzackiger Sternform an der Decke prangte, hatte er eigenhändig modelliert und mit bezaubernden Profilen geschmückt. In wunderbaren Hölzern schwelgten wir damals, als wir unsere Möbel bestellten…".

Es war eine Zeit, in der auch andere Jugendstilarchitekten wie der Belgier Henry van de Velde und der Deutsche Peter Behrens in Berlin neue Maßstäbe für Innen- und Außenräume setzten. Nicht nur die Molls hatten das Bedürfnis, sich mit den eigenen vier Wänden ästhetisch und weltanschaulich absetzen zu wollen. Dem bestimmenden Geschmack einer renommiersüchtigen wilhelminischen Gesellschaft begegneten sie mit dem reformorientierten Jugendstil. Das war ein Credo. Schon 1906 hatten sie in Dresden auf der Kunstgewerbe-Ausstellung die Arbeiten von Henry van de Velde und Peter Behrens bewundert.

Gediegene, kreative, materialgerechte Handarbeit faszinierte das Ehepaar. Sie suchten nach organischen, zweckmäßigen Formen und befriedigenden individuellen Lösungen. Der Jugendstil - als betonte Abkehr von der Nachahmung historisierender Stile - beeinflusste ihre Wahrnehmungen und Lebensempfindungen. Die zukunftsweisenden Arbeiten des Architekten van de Velde hatten sie 1907 in Hagen bei Karl Ernst Osthaus noch detaillierter kennen und schätzen gelernt. Seine auf Zweckmäßigkeit beruhenden organischen Gestaltungselemente entsprachen ihrer Lebensauffassung.

Kreativität zu entwickeln und zu stärken, neue Wege für das eigene Tun zu suchen und wahrzunehmen, bestimmte das Lebenskonzept des Ehe-paars, dem teutonische Düsternis fremd war. Angezogen waren sie von einer populären Schlüsselidee der Entfaltungstheorie, die um die Jahrhundertwende diskutiert wurde: Leben als fortwährenden schöpferischen Prozess zu begreifen.

In Frankreich hatten auch die Schriften des Philosophen Henri Bergson (1859 bis 1941) Margarete und Oskar Moll inspiriert. Vor allem sein 1907 veröffentlichtes Hauptwerk "L` évolution créatrice", in dem er seine Idee vom universalen Leben als schöpferischen Prozess darlegte, der in jedem Augenblick Neues und Unvorhergesehenes produziert, bewegte die junge Bildhauerin, die seit 1911 auch mit ihrem Kollegen August Gaul freundschaftlich verbunden war. Von diesem Tierbildhauer schrieb Max Liebermann: "Er wollte kein Übermensch sein, sondern ein schlichter Handwerksmeister, der seine Kunst so gut ausübt, wie er es vermag, und weil er ein Genie war, wurde – ihm natürlich unbewusst – aus dem Handwerk ein Kunstwerk."

"Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Stille", hatte Matisse formuliert, "von einer Kunst, die frei ist von beunruhigenden, quälenden Themen…" Margarete folgte in ihrer Arbeit dieser Vision. Sie vermied überflüssige, ablenkende Details, befolgte die Grunddualismen, die Matisse vermittelt hatte: Bewegung und Reglosigkeit, Figur und Natur, Druckkraft und Schwerkraft, Aktion und Reaktion. Stets interpretierte sie Natur; sah bei der von ihr entwickelten Kunstsprache immer das Bild des Ganzen vor ihrem geistigen Auge. Daraus entstand eine Prägekraft.

Als 1911 ihre Arbeiten in der Berliner Secession ausgestellt wurden, lobte Käthe Kollwitz ihre Skulpturen. Im gleichen Jahr zeigte Oskar Moll seine Bilder im Salon d`Automne in Paris.

Ihre Beziehungen zu den Malern Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel und Otto Mueller vertieften sich. Sie besuchten sich gegenseitig. Auch in ihren Ateliers. Die spätere Lebensgefährtin von Schmidt-Rottluff fotografierte die Arbeiten von Grete Moll. Leider verbrannten die Fotos. Es spricht für die prinzipielle Offenheit der beiden Molls, dass sie neuen Stilrichtungen ohne Scheuklappen begegneten und sich intensiv für Expressionisten und die aufkommenden Konstruktivisten engagierten. Sie erlebten sich in einem Freundeskreis, der von geistig-kosmischen Spekulationen und Lebensrevolution geprägt war.

Zum ersten Mal hörten sie von neuen Materialkonstruktionen, sahen neue Objektkunst. Immer wieder diskutierten sie mit zeitgenössischen Schriftstellern. So auch mit Theodor Däubler, der in seinen Dichtungen durch intensive Bild- und Klangkraft aufgefallen war und im gerade erschienenen Versepos "Das Nordlicht" (1910) die Entstehung von Menschheit und Welt neu behandelt hatte. Theosophische Vergeistigungen waren "in".